OLIVER HERWIG: In Ihrer Erfahrung als IBM Vice President of Design: Wie kreativ sind Großunternehmen, wenn es um rapide Veränderungen geht?
DOUG POWELL: Große Unternehmen tun sich schwer mit schnellem Wandel. Vor allem alte Großunternehmen. Aber das Stichwort bleibt schneller Wandel. Ein globales Riesen-Unternehmen mit Hunderttausenden von Mitarbeitern ist nicht dafür ausgelegt, flexibel auf sich verändernde Bedingungen zu reagieren.
OH: Doch bei IBM haben Sie einiges dagegen getan...?
DP: Als wir 2013 das Programm ins Leben riefen, verfügte IBM noch nicht über das menschliche Kapital innerhalb des Unternehmens mit den Fähigkeiten, um diese Art von Ressourcen aufzubauen. Das war ein wesentlicher Teil der Aufgabe, die ich dort mit meinem Amt übernommen habe.
OH: Eines Ihrer Hauptthemen ist „Leadership durch Design“. Wie kann Design in Zeiten der Disruption helfen?
DP: Unsere wichtigste Superkraft als Designer besteht darin, die Bedürfnisse der Menschen ins Visier zu nehmen. Das ist in einem großen Unternehmen eine einzigartige Qualität. Die Marketingleute werden dafür bezahlt, über den Markt, die Wettbewerbslandschaft und die Chancen für das Unternehmen nachzudenken. Die Ingenieure werden dafür bezahlt, darüber nachzudenken, wie man diese Dinge entwickelt. Und die Informatiker denken über die Daten nach. Das sind viele sehr kluge Leute mit enorm wichtigen Aufgaben.
OH: Und Designer ...
DP:... denken darüber nach, wer die Menschen sind, die dieses Ding, das wir bauen wollen, benutzen werden. Was sind ihre Bedürfnisse? Wo sind ihre Schmerzpunkte? Was macht ihnen Freude? Was frustriert sie zutiefst?Und wie können wir diesen Designer-Fokus auf die Bedürfnisse echter Menschen mit einer besseren Erfahrung verbinden? Das macht einen ganz entscheidenden Unterschied und ist ein wichtiger wesentlicher Grund, weshalb designorientierte Unternehmen auf dem Markt die Nase vorn haben.
Designer sind Agenten des Wandels.
OH: Sie haben gerade große Unternehmen als dysfunktionale Familien beschrieben, in denen die Mitglieder nicht miteinander reden und die unterschiedlichen Bedürfnisse der anderen nicht verstehen.
DP: Das ist die Wahrheit, und das Thema ist chronisch. Schauen Sie sich an, wie große Unternehmen organisiert sind: Sie bestehen in aller Regel aus unterschiedlichen Geschäftsbereichen, und diese werden mit der Zeit von den anderen Teilen des Unternehmens isoliert, die für andere Dinge verantwortlich sind. So funktioniert die Welt, in der wir leben.
OH: Und die Designer? Wozu sind sie da?
DP: Designer sind Vermittler. Das ist noch so eine Superkraft. Im Idealfall sind wir in der Lage, zu sagen: „Leute, ich sehe etwas total Interessantes in einer anderen Abteilung. Ich glaube, das könnte uns helfen, oder ich glaube, wir könnten dieser Abteilung helfen.“ Bringen wir also die richtigen Leute zusammen und tauschen uns aus. Das passiert in großen Unternehmen äußerst selten, doch genau das sollten Designer meiner Meinung nach tun können. Und durch unsere Methodik des Design Thinking oder des menschenzentrierten Designs stehen uns eine Reihe von Tools und Praktiken zur Verfügung, die diese Art von crossdisziplinärer Vernetzung wirklich fördern können.
OH: Es geht also um Soft Power.
DP: Das haben Sie sehr gut ausgedrückt. Und ja: So zu arbeiten ist für uns unglaublich wichtig.
OH: Sie bringen Designern bei, Führungsrollen zu übernehmen. Würden Sie sagen, dass diese in Krisenzeiten kreativer sein können?
DP: Ja, das können sie. Meine Hoffnung ist, dass Design-Leader unter Druck mithilfe ihrer kreativen Fähigkeiten das Feld anführen werden. Das ist jedoch nicht immer der Fall. Stattdessen erlebe ich immer wieder, dass Designer in eine Krise geraten, wenn sie eine Leitungsrolle bekommen. Dann passiert etwas Unerwartetes: Anstatt sich auf ihr Design-Talent zu verlassen, versuchen sie, einen Führungsstil zu verkörpern, der ihnen überhaupt nicht entspricht.
OH: Wie kommt das?
DP: Sie erkennen, dass ihre Soft Skills weniger wertgeschätzt werden, wenn es eng wird. Die meisten Design-Leader finden sich in einer Rolle wieder, für die sie nicht ausgebildet wurden. Und dennoch sind wir hier, ich eingeschlossen, in diesen riesigen Unternehmen mit riesigen Erwartungen und einer riesigen Verantwortung. Wir müssen Learning by Doing betreiben, was extrem herausfordernd ist. Und genau an diesem Punkt befinden wir uns jetzt in unserer Branche.
OH: Was ist Ihre Vorstellung von Innovation in Krisenzeiten?
DP: Das ist natürlich extrem schwierig. Eine Krise ist nicht der Zeitpunkt, um innovativ zu sein. Wenn Sie das trotzdem versuchen, haben Sie schon verloren und sind wahrscheinlich schon von einem Außenseiter überholt worden. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, große Unternehmen dazu zu bringen, ihre Innovationskraft in Zeiten zu stärken, in denen keine Krise herrscht, in diese Ressource zu investieren und sie über die Jahre zu fördern, damit Innovation immer mehr eine natürliche Lebens- und Verhaltsweise werden kann.
OH: Sie haben Menschen im Unternehmen beigebracht, zu verstehen, dass ...
DP:... innovatives, kreatives Denken ganz natürlich und nicht nur auf eine spezielle Art entstehen kann. Bei IBM mussten wir dies in der DNA des Unternehmens verankern. Letztendlich konnten wir über die Hälfte der Belegschaft in dieser Praxis schulen.
OH: Welche Methoden haben Sie in Ihrem Programm eingesetzt?
DP: Der Schlüssel sind Verhaltensweisen. Die Schlüsselaktivität ist die bereichsübergreifende Zusammenarbeit und Co-Kreation: Teams von Mitarbeitenden, die unterschiedliche Dinge tun, Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten, unterschiedlichem Hintergrund, unterschiedlichen Prioritäten, unterschiedlichen Denkweisen. Die Design-Thinking-Methode bringt all diese Menschen, Standpunkte und Erfahrungen zusammen und gibt ihnen eine Reihe von Aufgaben an die Hand, die sie alle gleichberechtigt bearbeiten können. Im Mittelpunkt steht dabei der Mensch, für den sie alle gemeinsam etwas erschaffen.
OH: Hätte ich an Ihrem Programm teilgenommen, ...
DP: ... hätten Sie eine Reihe von Fähigkeiten mitgenommen, die Ihnen helfen, die Bedürfnisse der Menschen besser zu erkennen. Wir haben nur wenig über Disruption gesprochen. Denn wenn Teams auf diese Weise zusammenarbeiten, kommen sie der Disruption vielleicht zuvor. Wir hoffen, dass sie intern zu Disruptoren werden.
OH: Das diesjährige Motto der mcbw lautet „How disruption unleashes creativity“. Sie haben es umgedreht: „Kreativität entfesselt Disruption.“
DP: Stimmt! Interessanter Gedanke. Es funktioniert in beide Richtungen. Ich denke, wir können nur gewinnen, wenn wir selbst aktiv zu Disruptoren werden, anstatt einfach nur auf Disruption zu reagieren.
Das Interview mit Doug Powell erschien erstmals im mcbw mag 2023.