GRENZE ROT

Ohne Nachhaltigkeit geht nichts mehr. Besuch bei Annette Baumeister, Leiterin des Bereichs Farb- und Materialdesign bei BMW.

Besprechungsraum 008. Steingrauer Fußboden, funktionale Tische. Im Hintergrund surrt ein Getränkeautomat. Und plötzlich schießt Annette Baumeister einen Halbsatz in den Raum, der alles verändert, leichter macht, menschlicher: „Grenze Rot.“ Seit 2019 leitet die Textildesignerin den Bereich Farb- & Materialdesign bei BMW. „Wenn wir ,Grenze Rot‘ sagen, heißt es, dass der Farbton nicht über dieses Rotlevel hinaus darf, es kann vielleicht sogar ein bisschen heller sein oder ein bisschen gelber. So beschreiben wir unsere Urmuster.“ Die gebürtige Münsteranerin steht hinter jedem Farbton und jeder Oberfläche. Qualität sei das Wichtigste, jene feine Linie, auf der nachhaltige Werkstoffe, Muster und Farben balancieren, um ihre maximale Wirkung zu entfalten. Oder vielmehr: ihre minimale. Denn drei Dinge prägen das Innenleben der Zukunft: „Reduktion, Beruhigung und Fokussierung auf das Wesentliche.“ Nichts soll ablenken. Zugleich sollen sich Stoffe und Oberflächen zu einem Ganzen fügen, in dem sich alle wohlfühlen. Dazu kommen all die kleinen Anforderungen wie Verschleiß oder Lichtechtheit, technische Vorschriften, Standards und Kulturen, die es unter einen Hut oder vielmehr unter eine übergreifende Idee zu bringen gilt. Daher Reduktion. Sie hilft, ein Fahrzeug für eine komplexe Welt zu schaffen, sagt die Designerin.

Strukturen, Reflexionen, Farbnuancen, Material – inspirierende Details für Annette Baumeister

Wo bleibt aber die Disruption, von der die ganze Branche erfasst ist, jener Wandel, der kein Bauteil auf dem anderen lässt, getrieben durch neue Motoren, neue Vertriebsmodelle oder teilautonomes Fahren? Da muss Annette Baumeister lachen: „Wir Designer:innen sehen natürlich immer Potenziale und wollen die Welt verändern. Gerade beim Material und Farbdesign wollen wir einen Raum kreieren, in dem sich Menschen wohlfühlen.“ Disruption finde im Material statt: Annette Baumeister möchte es „neu denken“. Und dabei ist Nachhaltigkeit so elementar. Einige visionäre Stoffe sind am Start, von Pilz-Schäumen bis zur Kolorierung durch Bakterien und 3D-Direktdruck auf Textil. Die Balance ist entscheidend, nicht nur mit Blick auf den Geschmack des Publikums. Ästhetik und Nachhaltigkeit müssten sich verbinden. „Und das muss ich gut zusammenkriegen.“

Wir Designer:innen sehen natürlich immer Potenziale und wollen die Welt verändern. Gerade beim Material und Farbdesign wollen wir einen Raum kreieren, in dem sich Menschen wohlfühlen. 

Blauer Kristall – Erinnerungsstück aus Annette Baumeisters Zeit als Studiodirektorin bei Designworks Shanghai

Materialien, Muster und Oberflächen bilden einen Dschungel, in dem sich Unkundige verlaufen würden. Jedes Ambiente braucht einen Mittelpunkt, ein Schwergewicht. Annette Baumeister beginnt bei einer Farbgebung, um die sie alles gruppiert. Gleiches gilt für Oberflächen und Materialien. „Eins muss vorgehen und sagen: ‚Ich bin’s. Das innovativste Material.‘ Wenn ich das hinkriege, kriege ich auch den Rest hin.“ So wächst ein dreidimensionales Puzzle aus Farben und Formen. Dafür braucht es eine ruhige Hand, aber echte Ruhe gibt es nicht. „Wir werden ja ständig aufs Neue herausgefordert“, sagt die Materialexpertin, „es ist wirklich so, dass wir manchmal wenig Zeit haben, kreativ zu sein und alles genau auszutarieren und strategisch zu denken. Dafür braucht es eine ganz andere Art von Ruhe und Intensität. Aber die Herausforderung macht auch hier erfinderisch.“

Sie und ihr Team hätten in den vergangenen Jahren stark auf Kreativität gesetzt und diese setze wiederum andere Kreativität frei. Wie eine Kettenreaktion quer durch neue Materialien und Herstellungsverfahren. Braucht es dafür eigentlich eine besondere Umgebung, einen hippen, coolen Stadtteil? „Vielleicht einen Hinterhof mit einem lichtdurchfluteten Studio, knarzenden Holzdielen und einem Studio-Hund. Davon habe ich immer geträumt. Und trotzdem sind wir auch hier kreativ.“ Im Designstudio gibt es dafür normiertes Licht, bei dem noch die feinsten Farbnuancen sichtbar werden, ein Schwarz beispielsweise, das noch ein bisschen blauer ausfällt als das andere Schwarz. „Beim ersten Mal habe ich wirklich gedacht: Worüber reden die Kolleg:innen? Da war ich noch ganz frisch im Unternehmen, und dann sagte der eine, das sei ja viel zu grün, und der andere, das sei viel zu rot. Kurzzeitig hatte ich Panik. Dann fängt man an zu sehen, was andere sehen.“ Ob sie denn einen absoluten Farbsinn besitze wie das absolute Gehör? „Ich glaube, er ist schon ganz gut“, antwortet sie. Die Zeit ist fast um. Annette Baumeister blickt sich im Besprechungsraum um, schüttelt unmerklich den Kopf. Fast schon im Gehen sagt sie: „Wir wissen ja auch nicht immer alle Antworten“, und fügt hinzu: „Vielleicht ist das die endgültige Disruption.“

Das Interview mit Annette Baumeister erschien erstmals im mcbw mag 2023.